Berlin (agrar-PR) - Mit einer als Pressekonferenz inszenierten
Demonstration haben Spitzenvertreter aus Umweltorganisationen, Parteien,
ökologisch orientierten Verbänden und Unternehmen in Berlin vor dem
Brandenburger Tor gegen die Atompolitik der Bundesregierung und für eine
entschlossene Fortsetzung der Energiewende in Deutschland demonstriert.
Die binnen weniger Tage mobilisierte gesellschaftliche Vielfalt der
Teilnehmer deute auf eine "zunehmende Selbstisolation der
Bundesregierung in der Frage der Atomenergie" hin, erklärten die
Initiatoren der Veranstaltung. Unmittelbarer Auslöser des Protests war
die nach der verlorenen Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen bekannt
gewordene Absicht von Union und FDP, den Weiterbetrieb
sicherheitstechnisch veralteter Atomkraftwerke sehr kurzfristig und ohne
das seit der Bundestagswahl angekündigte nationale Energiekonzept zu
beschließen. Damit entlarve sich die Energiepolitik der Regierung
endgültig als "reine Lobbyveranstaltung zugunsten der dominierenden
Energieversorger in Deutschland".
An der "demonstrativen Pressekonferenz" beteiligten
sich neben Spitzenvertretern des Bund für Umwelt und Naturschutz
Deutschland (BUND), von Greenpeace, der Deutschen Umwelthilfe (DUH), des
Naturschutzbund Deutschland (NABU), von Germanwatch und der
Klima-Allianz auch der SPD-Parteivorsitzende Sigmar Gabriel und der
Fraktionsvorsitzende von Bündnis 90/Die Grünen, Jürgen Trittin. Von
Seiten der Energiewende-Wirtschaft nahmen die Spitzen des
Bundesverbandes Erneuerbare Energien (BEE), des Bundesverbandes
Kraft-Wärme-Kopplung (B.KWK), des Bundesverbandes Geothermie, GtV und
Manager des Projektentwicklers für Erneuerbare-Energien-Anlagen juwi,
der deutschen Marktführer von Windkraft- und Photovoltaikanlagen Enercon
und Solarworld sowie die Ökostromhändler Lichtblick, Elektrizitätswerke
Schönau (EWS) und Greenpeace Energy teil.
Der Bundesgeschäftsführer der Deutschen Umwelthilfe
(DUH), Rainer Baake, warf der Bundesregierung vor, die Öffentlichkeit
seit ihrer Wahl im Herbst 2009 mit der Behauptung, sie wolle Atomkraft
nur noch als "Brückentechnologie" in das regenerative Zeitalter nutzen,
systematisch hinters Licht geführt zu haben. Es sei "geradezu absurd,
nun zuerst die zeitliche Streckung einer Hochrisikotechnologie des 20.
Jahrhunderts bis zur Mitte des 21. Jahrhunderts zu beschließen, um
anschließend darüber nachzudenken, welche Rolle die Zukunftsenergien in
diesem Konzept spielen könnten." Es gebe keine sicheren Atomkraftwerke,
erklärte Baake, schon gar nicht, wenn sie älter und älter werden.
"Angela Merkel muss wissen, jeder Atomunfall, der in diesem Land in
Zukunft passiert, ist ein Unfall der Kanzlerin."
Der Vorsitzende des Bund für Umwelt und Naturschutz
Deutschland (BUND), Hubert Weiger, sprach sich gegen jede
Laufzeitverlängerung aus und forderte eine Beschleunigung des
Atomausstiegs. Der Ruf nach längeren Laufzeiten für Atomkraftwerke stoße
in weiten Teilen der Bevölkerung auf Widerstand. "Wir fordern die
Bundesregierung auf, die kurzsichtigen Gewinninteressen von
Stromkonzernen nicht zur Grundlage ihrer Politik zu machen. Wenn Merkel
und Röttgen den Schutz von Bevölkerung und Umwelt vor den
Strahlenrisiken ernst nehmen, dann stehen nicht Laufzeitverlängerungen
für Atomkraftwerke auf der Tagesordnung sondern Laufzeitverkürzungen."
Der BUND-Vorsitzende kündigte an, den Protest gegen eine
rückwärtsgewandte Energiepolitik erneut auf die Straße tragen zu wollen.
Eine Großdemonstration gegen die Atomkraft in Süddeutschland im Herbst
sei bereits in Vorbereitung. Auch im November, anlässlich des
angekündigten nächsten Castor-Transports nach Gorleben, werde es
überregional unterstützte Proteste geben.
Der SPD-Vorsitzende Sigmar Gabriel versicherte,
seine Partei werde den Atomausstieg auch in Zukunft entschieden
verteidigen und dabei weiterhin mit Bündnispartnern zusammenarbeiten.
Der Ausstieg sei die Voraussetzung für die energiewirtschaftliche
Zukunftsfähigkeit Deutschlands. "Diese Bundesregierung ist ein
Sicherheitsrisiko. Längere Laufzeiten von alten Pannenreaktoren sind
nicht zu verantworten", sagte Gabriel. Wer aus dem Atomausstieg
aussteige, sorge für immer mehr Atommüll, für den es bis heute weltweit
kein sicheres Endlager gebe. Auch ökonomisch seien die Pläne der
Regierung unverantwortlich: "Wenn Atomkraftwerke länger laufen, wird der
Ausbau der Erneuerbaren Energien ausgebremst. Mit verheerenden Folgen
für die rund 300000 Arbeitsplätze in dieser Boom-Branche", erklärte
Gabriel.
Als Vertreter dieser Boom-Branche erklärte Dietmar
Schütz, der Präsident des Bundesverbandes Erneuerbare Energie e.V.
(BEE): "Wir haben jetzt die einmalige Chance, mit Erneuerbaren Energien
zügig auf die Energieversorgung der Zukunft umzusteigen. Die
Erneuerbaren benötigen keinen Import fossiler Brennstoffe und
hinterlassen keine gefährlichen Abfälle." Allerdings benötige die junge
Branche für den Umstieg dringend verlässliche Investitionsbedingungen.
Die seien in den vergangenen acht Jahren nicht zuletzt deshalb gegeben
gewesen, weil der Atomausstieg im Jahr 2002 gesetzlich besiegelt worden
sei. Schütz: "Laufzeitverlängerungen stehen dem Umbau der
Energiewirtschaft im Weg, sie verzögern völlig unnötig den Ausbau der
Erneuerbaren Energien im Stromsektor."
Der Fraktionsvorsitzende von Bündnis 90/Die Grünen
und frühere Bundesumweltminister, Jürgen Trittin, griff insbesondere die
Widersprüchlichkeit der aktuellen Energiepolitik an: "Die
Bundesregierung verspricht ein Energiekonzept aus einem Guss und tut das
Gegenteil: Sie beschließt Laufzeitverlängerungen für die Atomkraftwerke
um den vier großen Energieversorgern Milliardengewinne zuzuschanzen.
Gleichzeitig bremst sie den Ausbau der Erneuerbaren Energien aus." Es
sei ein Unding, dass die Bundesregierung nun, nach der Wahl in NRW,
zuerst die Laufzeitenverlängerung für die Atomkraftwerke festlegen
wolle, um dann im Energiekonzept die noch notwendige Menge an
Erneuerbaren Energien zu ermitteln. "Das versteht niemand mehr, so
stellt man die Energiezukunft von den Füßen auf den Kopf", sagte
Trittin. Die Mehrheit in diesem Land wolle keine Laufzeitverlängerung.
Daher müssten auch die Atomkraftwerksbetreiber zur Kenntnis nehmen, dass
jede Laufzeitverlängerung von einer neuen Regierung rückgängig gemacht
werden könne. "Jede Investition, die die Betreiber mit Blick auf die
Laufzeitverlängerung tätigen, läuft auf eigenes Risiko", schloss
Trittin.
Der Vorstandsvorsitzende der in Darmstadt ansässigen
Heag Südhessische Energie AG (HSE), Albert Filbert, kritisierte, dass
der von der Bundesregierung vorangetriebene Ausstieg aus dem
Atomausstieg das eigentlich parteiübergreifend beklagte Oligopol der
Großkonzerne im Stromerzeugungsbereich in die Zukunft verlängere. Wenn
es so komme, werde es keine Fortschritte bei den klassischen
Erzeugungstechnologien geben, erst recht werde der nachhaltige Ausbau
der regenerativen Energie verhindert. Arbeitsplätze im Wirtschaftzweig
der regenerativen Energie würden akut gefährdet. Dabei handele es sich
aber immer noch um klassische Bereiche des Mittelstandes wie des
Handwerks. Filbert: "Statt eines dringend erforderlichen Primats der
Erneuerbaren Energie werden wir ein Primat der Kernenergie bekommen, um
das ein Energiekonzept der Bundesregierung herumgebaut werden wird,
sofern man dann überhaupt noch von einem Konzept sprechen kann." Der
Staat greife mit Laufzeitverlängerungen einseitig in den Wettbewerb ein
und zementiere die Marktmacht der vier großen Unternehmen. Die beste
Lösung sei, das Atomausstiegsgesetz so zu lassen, wie es 2002 im
Bundestag geschlossen worden sei. "Darauf haben sich alle Unternehmen,
mit Ausnahme der vier großen Energieunternehmen, mit ihren Investitionen
in regenerative Energien eingerichtet", sagte Filbert.
Im Zusammenhang mit der öffentlichen Aktion vor dem
Brandenburger Tor trafen sich die Vertreter der beteiligten
Organisationen, Verbände und Unternehmen, um über das weitere Vorgehen
gegen die Pläne der Bundesregierung zu beraten. Es bestand Einigkeit
darüber, dass der politische Preis einer Abkehr von der Energiewende für
die Bundesregierung und die sie tragenden Parteien nach der Wahl in
Nordrhein-Westfalen weiter nach oben getrieben werden müsse.