Zürich (agrar-PR) -
ETH-Forscher entdeckten eine neue Lebensform von Listerien, gefürchteten Erregern von schweren Lebensmittelvergiftungen. Die Bakterien können sich in der so genannten L-Form sogar vermehren und verbreiten. Jetzt sind neue Nachweismethoden für diese Bakterien gefordert. Seit
über 100 Jahren wissen Forscher, dass Bakterien ihre Zellwand verlieren können und
trotzdem weiterleben. Lange aber glaubten sie, dass es sich dabei um einen Artefakt
handelt und dass zellwandlose Bakterien nicht sehr lange lebensfähig bleiben. Eine
neue Arbeit von einer Gruppe um ETH-Professor Martin Loessner, die soeben in
der renommierten Zeitschrift «Molecular Microbiology» publiziert wurde und es aufs
Titelblatt geschafft hat, zeigt aber, dass Bakterien ohne Zellwand eine stabile
Form bakteriellen Lebens sein können. Erstaunlicherweise können Listerien ohne
Zellwand nicht nur überleben, sondern sie können sich sogar vermehren und
ausbreiten.
Vom Käse ins Hirn
Listerien
(
Listeria monocytogenes) sind Erreger
von gefährlichen, mitunter tödlichen Lebensmittelvergiftungen, insbesondere bei
Rohmilchspeisen, wie etwa Vacherin-Käse. Die Bakterien dringen über die
Epithelzellen des Darmes ein und verbreiten sich von Körperzelle zu
Körperzelle. Dadurch werden sie für das Immunsystem unsichtbar. Die Listerien
überwinden sowohl die Blut-Hirn-Schranke als auch die Plazentaschranke. Im Hirn
angelangt verursachen sie schwere Hirnentzündungen, die tödlich verlaufen
können. Listerien können auch Föten und Schwangere gefährden.
Membran statt Zellwand
Normalerweise
sehen Listerien wie Stäbchen aus. Verlieren sie ihre Zellwand, zum Beispiel
aufgrund des Kontaktes mit bestimmten Antibiotika, die den Aufbau der Zellwand verhindern,
werden sie kugelig und vergrössern sich stark. Die Bakterien sind dann nur noch
von einer einzigen Membran umgeben. Zwischen dieser so genannten L-Form und der
Stäbchenform gibt es zudem ein Zwischenstadium, von dem aus die Bakterien die
Zellwand wieder aufbauen können. Haben die Listerien den vollständigen L-Form-Status
aber einmal eingenommen, gibt es wahrscheinlich kein Zurück.
Mit
dem Wechsel von normaler in die L-Form geht auch eine komplette Umstellung im
Zellstoffwechsel respektive in der Genaktivität einher. Beinahe 280 Gene von Normal-
und L-Form-Listerien wiesen unterschiedliche Aktivität aus. Gene, welche für
die Stressregulation verantwortlich sind, waren in der L-Form besonders aktiv. Dagegen
waren ihre Gene für Stoffwechsel und Energiehaushalt stark herunterreguliert. Dies
verstehen die Forscher als Antwort und aktive Anpassung auf den neuen
Lebensstil der Bakterien. «L-förmige Listerien leben eigentlich stark
gestresst», sagt Loessner.
Zucht in Milch
L-Formen
von Bakterien zu «züchten», ist nicht einfach. Sie müssen in einer Lösung
«gehalten» werden. Sie bilden keine Kolonien, ausplattieren auf ein Nährmedium
ist daher nicht möglich. Dennoch sind
die L-Form-Listerien fähig, sich zu vermehren. Allerdings dauerte die
Vermehrung lange: Bis zur Bildung einer sichtbaren Kolonie dauert es mindestens
sechs Tage. Normale Listerienzellen teilen sich alle 30 Minuten; Kolonien sind
nach 16 bis 20 Stunden sichtbar. Gestaunt haben die Forscher auch über die Art
und Weise, wie sich in Mutterzellen der L-Formen Tochterzellen bilden. Erst entstehen
neue Vesikel; sind diese gross genug, platzt die aufgeblähte Mutterzelle und
gibt die Tochterzellen frei. Diese besitzen die volle genetische Ausstattung der
Mutterzelle. Wie das Genmaterial verteilt wird, ist noch unklar. Ihr
Stoffwechsel setzt erst ein, wenn sie die Mutterzelle verlassen haben.
L-Form
Listerien überlisten zudem das Immunsystem. Makrophagen, also Fresszellen,
nehmen die Kügelchen zwar auf, können sie aber nicht vernichten. Normale
Listerien sind nach 30 Minuten getötet. Die L-Form überlebt tagelang in einem
Makrophagen. «Wenn die Makrophagen die L-Formen nicht als Pathogen erkennen
können, dann ist das für das Immunsystem möglicherweise ein Problem», erklärt der
ETH-Professor.
Übergangsform nicht
nachweisbar
Der
Grund, weshalb die Forscher diese merkwürdige Lebensform erforschten: Vor rund
20 Jahren kam es in Kanada durch Konsum von verseuchter Milch zu einer
Listerien-Epidemie mit vielen Todesfällen. Die Erreger liessen sich sowohl auf
der Farm, woher die Milch stammte, als auch in den Patienten nachweisen, welche
die Milch konsumiert hatten. In der fraglichen Milch konnten Forscher die
Listerien jedoch nicht finden. Eine mögliche Erklärung ist, dass die Bakterien
in der Milch in ihrer reversiblen L-Form vorkamen und so gar nicht nachgewiesen
werden konnten. «Denn die L-Form vermehrt sich in Milch genauso gut wie unter
Laborbedingungen», weiss Loessner.
Zudem
fanden Pathologen in Hirnschnitten von Tieren, die an Listeriose gestorben waren,
oft kleine Bläschen, die sie bis anhin nicht richtig einordnen konnten.
Loessner vermutet, dass es sich dabei ebenfalls um L-förmige Listerien gehandelt
haben könnte.