Die moderne Biologie ist geprägt von vielen
Bildern und grossen Datenmengen. Es kann beispielsweise auf ein Mal gemessen
werden, was stark die genetische Information abgelesen wird oder welche
Proteine und in welchen Mengen an gewissen Prozessen beteiligt sind. Entsprechend
schiessen neue Forschungszweige wie Pilze aus dem Boden. War es zu Beginn die
Genomik, gibt es mittlerweile Proteomik, Transkriptomik oder Metabolomik sowie
Untergebiete. Allen gemeinsam ist, dass man Lebewesen oder ihre Teilsysteme als
Ganzes erfassen möchte. Diese Ansätze lassen sich als Systembiologie
zusammenfassen.
Bei ihrer Dynamik könnten Aussenstehende
denken, dass die Systembiologie die Forschungsrichtung der unbegrenzten
Möglichkeiten ist. Doch so einfach ist es nicht. Die Erfolge basieren auf hart
erarbeiteten, ausgeklügelten Methoden. Deren Grenzen werden immer wieder
hinausgeschoben, aber die Forscher stossen auch immer wieder auf neue.
Gefroren durchleuchtet
Ein Beispiel lieferten kürzlich Forscher der
Arbeitsgruppe von
Ruedi
Aebersold, ETH-Professor für Systembiologie. Sie untersuchten im Bakterium
Leptospira interrogans, wie weit sich
die Proteinmengen direkt visualisieren lassen, also wie weit sich visuelle
Proteomik betreiben lässt.
Leptospira
ist ein Krankheitserreger, der von Säugetieren wie Hund oder Maus auf den
Menschen übertragen wird und dort zu grippeähnlichen Symptomen, im schlimmsten
Fall zu Nieren- und Leberversagen und selten zum Tod führt.
Das Interesse der Wissenschaftler erregte das
Bakterium jedoch nicht aufgrund seines Schadenspotenzials, sondern wegen seiner
speziellen Form. Leptospira ist länglich spiralig und hat einen geringen Durchmesser
von 0,1 bis 0,18 Mikrometer. Dadurch kann der Erreger gut von
Elektronenstrahlen durchdrungen werden, was Bilder mit hoher Auflösung
ermöglicht. Gefriert man ein Bakterium ein, so kann mittels der
Kryoelektronentomographie genannten Methode eine Zelle in einem bestimmten Stadium
erfasst und im Prinzip die Mengen der vorhandenen Proteine erfasst werden. Interessant
dabei ist vor allem, dass eine einzelne Zelle analysiert werden kann, denn mit
den meisten übrigen Methoden bestimmt man Proteinmengen von vielen aufgelösten
Zellen zusammen.
Doch kann man wirklich Mengen- und nicht nur
Typenbestimmung von Proteinen machen, wenn man Zellen durch Gefrierschock
stillstehen lässt und danach in den Tomographen schiebt? Die Antwort lautet:
ja. Die ETH-Forscher fanden die typischen, sogenannten Referenzstrukturen
bestimmer Proteine und konnten dadurch deren Mengen abschätzen. Die
Einschränkung war aber, dass es sich nur für wenige, sehr grosse und relativ häufig
vorhandene Proteinkomplexe wie die Ribosomen machen liess. Kleine oder seltene
Proteine, aber auch allzu dicht vorkommende, konnten nicht sauber quantifiziert
werden, da das Rauschen des Detektors zu gross war. Trotz dieser Einschränkung
sind die Resultate der Tomographieaufnahmen spannend: Sie ermöglichen die Messung von
Konzentrationsunterschieden gewisser Proteine innerhalb einer einzelnen Zelle.
Kombiniert man solche Resultate mit guten quantitativen massenspektrometrischen
Daten, kann man nicht nur die relative Dichte der Proteine erfassen, sondern
auch die absolute.
Gut verankertes Vorgehen
Apropos absolute Quantifizierung: Diese möchten
Systembiologen schon lange verlässlich für grosse Sätze von Proteinen
durchführen können. Denn das würde es erlauben, über verschiedene Messungen
hinaus Vergleiche zwischen den Proteinmengen anzustellen. Solche Messungen sind
aber trotz der grossen Möglichkeiten der massenspektrometrischen Methoden nicht
trivial, da es nicht einfach ein absolutes Referenzsystem gibt.
Doch man kann ein gutes Referenzsystem
kreieren, wie die Aebersold-Gruppe in einer weiteren Arbeit demonstrierte. Die
ETH-Forscher bestimmten wiederum in
Leptospira
interrogans 19 Kandidaten, Ankerproteine genannt, die ein Referenzsystem
bilden sollten. Deren absolute Mengen schätzen sie ab, indem sie deren
Konzentrationen mit denen von sehr stabilen markierten Peptiden verglichen, die
sie den Zellen beifügten. Da auch die Zellzahl bei den Messungen bekannt war,
konnte auf die Anzahl Kopien der Ankerproteine pro Zelle geschlosssen werden.
Vom neuen 19-teiligen Referenzsystem aus konnten die Forscher dann wiederum
über relative Vergleiche die Menge von anderen Proteinen bestimmen. Insgesamt
erhoben sie für mehr als 1800 Proteine die Anzahl Kopien pro Zelle.
Um ihre ausgeklügelte Methode, die neben drei
massenspektrometrischen Methoden auch viele statistische Analysen umfasst, zu
überprüfen, verglichen die Forscher sie mit Ergebnissen aus der oben erwähnten
Kryoelektronentomographie. Mag das gegenseitige Abwägen vielleicht wie ein
Zirkelschluss aussehen, so täuscht dieser Eindruck. Das hängt mit einer
Besonderheit von Leptospira zusammen. Das Bakterium enthält nämlich gewisse
Strukturen, deren Zusammensetzung bekannt ist. So weiss man, aus wie vielen
Proteinen die Flagelle – eine Geisel, die das Bakterium antreibt – und deren
Motor besteht. Zeigte die Kryoelektronentomographie, dass das Bakterium zwei
Geiselmotoren hat, so konnte auf 52 Proteinkopien pro Zelle für das
Motorenprotein FliF geschlossen werden. Die ETH-Forscher kamen mit ihrer
massenspektrometrischen Methode auf 43, ein guter Wert bei solch kleinen Mengen.
Ein Eckstein der quantitativen Biologie
Die neue absolut quantitative Methode
funktioniert also. Da sie sich aller Voraussicht nach auch auf andere
Organismen als Leptospira anwenden lässt, bezeichnen sie die Forscher im Paper
als Eckstein für die quantitative Biologie. Nicht umsonst erschien die Arbeit
in der Fachzeitschrift «Nature» selbst.
Bei der visuellen Proteomik dürfte die breite
Anwendung noch auf sich warten lassen. Die in «Nature Methods» publizierten
Ergebnisse zeigen zwar, dass die Methode funktioniert und vor allem für
Analysen innerhalb einer Zelle Potenzial hat. Da aber in einem für
Kryoelektronentomographie idealen Organismus wie Leptospira die Anzahl
analysierbarer Proteine klein ist, braucht es noch weitere Entwicklungsarbeit.
Martin Beck, der Erstautor des Papers, glaubt, dass es zehn Jahre dauern
könnte. Bis dahin dürften Leptospira-Bakterien weiterhin die Aufmerksamkeit des
Menschen erregen, unabhängig der von ihnen ausgelösten Krankheit.
Literaturhinweise
Malmström J, Beck M, Schmidt A, Lange V,
Deutsch EW, Aebersold R. Proteome-wide cellular protein concentrations of the
human pathogen Leptospira interrogans. Nature. 2009 Aug 6;460(7256):762-5. Epub 2009
Jul 15. doi:
10.1038/nature08184
Beck
M, Malmström JA, Lange V, Schmidt A, Deutsch EW, Aebersold R. Visual proteomics
of the human pathogen Leptospira interrogans. Nat Methods. 2009
Nov;6(11):817-23. Epub 2009 Oct 18. doi:
10.1038/nmeth.1390