04.01.2010 | 00:00:00 | ID: 4348 | Ressort: Umwelt | Klima

Vielfalt braucht Platz

Zürich (agrar-PR) - Die biologische Vielfalt tritt im Jahr 2010 aus dem langen Schatten des Klimawandels. Weshalb es das Uno-Jahr der Biodiversität dringend braucht, erklärt ETH-Professor Paul Schmid-Hempel im Interview mit ETH Life.

Täglich hören wir schlechte Nachrichten über den Klimawandel, jetzt kommt das Jahr der Biodiversität mit ähnlichen Hiobsbotschaften. Steuern wir auf einen Kollaps bei der biologischen Vielfalt zu?
Mit Ausdrücken wie Kollaps oder Katastrophe muss man vorsichtig sein. Wir haben aber einen starken Rückgang – menschgemacht – bei der Biodiversität. Man sollte aber weder einfach den Kopf in den Sand stecken noch darf man den Verlust der Biodiversität negieren. Die Welt wird sich verändern, einiges davon sicher nicht zu unserem Vorteil. Was eine Katastrophe ist, hängt auch von den Wertvorstellungen ab, die man hat.

Was sind die Hauptursachen für den Verlust der biologischen Vielfalt?
Die Hauptursache ist die Landnutzung. Der Mensch braucht das Land intensiver als noch vor 100 oder 200 Jahren. Zwar nutzt der Mensch das Land, seit es ihn gibt. So holzten die Römer im grossen Stil Wälder in Nordafrika ab, um Schiffe bauen zu können – mit damals verheerenden Folgen. Mit dem Wachstum der Bevölkerung und der Zunahme der individuellen Ansprüche hat sich der Verlust an Biodiversität jedoch beschleunigt. Salopp gesagt: Landwirtschaft statt Regenwald. Ozeane leiden unter starker Nutzung jenseits der Erträge, die diese Ökosysteme hergeben. Der Klimawandel wird als weiterer Faktor dazu kommen.

Weshalb?
Der Klimawandel hat zwei Konsequenzen: Landwirtschaftsgebiete, die einst ertragreich waren, sind es wegen des Klimawandels nicht mehr. Neue, bisher unberührte Fläche kommen unter den Pflug. Eine direktere Folge ist, dass sich für die Arten die Umweltbedingungen ändern. Dadurch gibt es Verschiebungen. Das Problem ist, ob sich Arten ebenfalls verändern können. Theoretisch ist es möglich, in der Praxis geht das nur, wenn die Populationen gross genug sind.

Es sind aber schon immer Arten ausgestorben.
Heute sind Geschwindigkeit und Dimension ganz anders. Neue Arten werden zwar laufend entdeckt. Das ist aber nur ein Bruchteil von dem, was es gibt – und was verloren geht. Das «natürliche» Aussterben ist kein Argument.

Biodiversität ist nur für interessierte Laien oder Spezialisten eine Qualität, der Normalverbraucher kennt ja keine zehn Vogelarten. Wie soll er Biodiversität als Qualität erkennen?
Was man an persönlichen und kulturellen Werten aus der Biodiversität gewinnt, ist individuell verschieden. Es ist klar, dass Otto Normalverbraucher die Waldbäume nicht zwingend kennt. Der Lackmustest ist das Freizeitverhalten der Menschen. Ich behaupte, dass niemand dorthin geht, wo die Natur kaputt ist. Man macht keine Ferien im Autobahnkreuz, sondern geht dahin, wo man baden kann, wo es schön ist. Das ist gleichbedeutend mit Biodiversität. Natürliche Vielfalt wird als erholsamer empfunden als eine monotone oder kaputte Landschaft.

Es geht ja nicht nur um Ferien und Freizeit. Was leistet die Biodiversität denn sonst noch für uns?
Funktionierende Ökosysteme bringen uns gesunde Luft, sauberes Wasser oder «technische Lösungen», wie die Stabilisierung von Berghängen. Ein diverses Ökosystem ist in aller Regel stabiler als ein artenarmes. Zudem gibt es die Apotheke Natur. Es gibt Wirkstoffe aus Pflanzen, die wir noch gar nicht kennen.

Gibt es dafür Beispiele?
Naturstoffe machen 80 bis 90 Prozent unserer Apotheke aus. Ein bestimmtes Immergrün aus Madagaskar, eine bedrohte Art, produziert ein starkes Zytostatikum und ist ein potentes Mittel gegen gewisse Krebsarten. Es geht auch um technische Anwendungen und interessante Werkstoffe. So versuchen Forscher herauszufinden, weshalb Seepocken so stark haften und woraus deren Klebstoff besteht, um ihn künstlich herzustellen. In der Natur, der Vielfalt, sind Millionen von Jahren an Versuch und Irrtum niedergelegt. Es ist daher absurd, diese Ressource wegzuschmeissen, ehe wir davon profitieren können. Die ETH würde gut tun daran, der Ressource Biodiversität noch mehr Beachtung zu schenken.

Was nützt es aber dem Werkstoffspezialisten, wenn er weder den Namen einer Pflanze kennt noch welche Ansprüche sie an ihre Umwelt stellt?
Man kann nicht nur die Pflanze nehmen, von der man weiss, dass sie einen Wirkstoff produziert. Man sollte wissen, wo sie lebt, was sie zum Leben braucht und wie sie erhalten werden kann. Dazu braucht es bio-ökologische Forschung sowie taxonomische und systematische Grundlagen. Gerade in den letzteren Bereichen hat sich die ETH in den letzten Jahren nicht hervorgetan - übrigens nicht als einzige unter den Hochschulen. Die Geobotanik ist zwar noch gut vertreten, aber im Bereich der Vielfalt der Tiere gibt es hier fast nichts mehr ausser der Insektensammlung. Man darf die Eawag lobend erwähnen, was das Leben im Wasser angeht.

Weshalb hat die ETH beispielsweise die Systematik beinahe abgeschafft? Ist sie zu wenig prestigeträchtig?
Das ist eine Frage der Prioritäten. Es ist verständlich, dass die ETH andere hat als eine Universität. Langfristig muss die ETH jedoch ein Interesse daran haben, die Biodiversität zu erforschen, denn von deren Verlust sind viele Bereiche betroffen, etwa die Biologie und die Umweltwissenschaften, die Flaggschiffe der ETH sein sollen. Umweltforschung ist nicht nur Luftreinhaltung und Abfallbeseitigung, sondern auch der Erhalt der biologischen Vielfalt. Es wäre sehr kurzfristig, wenn die ETH nur auf Bereiche wie Systembiologie setzt. Sie wird der Gesellschaft zwar nützen, aber es ist letztlich nicht sehr sinnvoll wenn rundherum die Natur verarmt und wir auch nicht einmal mehr verstehen, wie die Natur oberhalb der Zelle funktioniert.

Dafür kennt man alle Proteine von Zellen und findet möglicherweise Wirkstoffe gegen Krankheiten.
Das hat natürlich seine Berechtigung und diese Forschung hat auch Erfolge vorzuweisen, aber es geht um die Balance der langfristigen Interessen. Die ETH sollte sich auch bei Biodiversitätsfragen mehr engagieren. Diese haben die gleiche Brisanz wie Fragen des Klimawandels.

Müssen wir jeden Baum ein Preisschild ankleben, damit Biodiversität einen Wert erhält?
Als Wissenschaftler und Mensch hoffe ich das nicht, aber in der heutigen Zeit muss man als Realist sagen, dass diese Ökonomisierung in unserer Gesellschaft – und auch an der Hochschule - wichtig geworden ist. Letztlich ist dies am eingängigsten: Eine intakte Natur hat einen riesigen monetären Wert. Wenn sie nicht da ist, müssen wir die Leistungen selber bezahlen.

Wie gross ist der Wert dieser Naturleistungen?
Weltweit geht das vermutlich an die Trillionen-Grenze. Der Betrag ist ungeheuer hoch, denn wir müssen nicht bezahlen für Dinge wie die Wasserreinhaltung oder die Wasserspeicherung in Wäldern. Ein Monokulturwald kann das nicht in der gleichen Weise leisten. Aber auch die Bestäubung unserer Kulturpflanzen ist ein wichtiges Thema. Ein See, ein Meer, kann nicht mit nur einer Art überleben. Es braucht eine Nahrungskette. Nur so kann man Fische erhalten. Es ist ein Naturgesetz: Es braucht Diversität, damit auch wir gut leben können.

Wie bringt man es in die Köpfe der Politiker hinein, dass der Erhalt der Biodiversität ein wichtiges Anliegen ist?
Ich denke, dass das Bewusstsein gross ist, aber es braucht auch Taten. Es ist tatsächlich ein ökonomisches Argument. Letztlich ist es besser, wenn man die Natur ihre Dienste anbieten lässt. Es ist günstiger, als wenn man alles technisch nachstellen muss. Diesen Vorteil haben wir nur, wenn Natur vielfältig sein darf.

Sind Schutzgebiete letztlich das einzige probate Mittel, um die Vielfalt zu erhalten?
Schutzgebiete sind ein wichtiger Pfeiler. Natur braucht die Abschirmung vom menschlichen Einfluss. Es braucht aber auch Aufklärung und Bildung, selbst wenn deren Effekte nicht so gross ist, wie man es sich erhoffen würde. Wichtig ist auch die persönliche Erfahrung der Leute, die man in Einrichtungen wie dem Zentrum Sihlwald machen kann. Die Autorität und Glaubwürdigkeit der Hochschulen in diesem Bereich ist in der Diskussion mit der Öffentlichkeit und der Politik wichtig. Dabei sollte auch die ETH ihr Gewicht vermehrt zugunsten von Biodiversität in die Waagschale werfen.

Schutzgebiete schafft man aber nicht mit akademischen Diskussionen.
Die Natur braucht Platz. Deshalb sind Naturschutzparks wichtig. Mir ist bewusst, dass man das nicht gegen den Willen der Bevölkerung tun kann, aber wir sitzen alle im gleichen Boot. Etwas vom Besten, was Naturschutzorganisationen tun können, ist, Land zu kaufen. Der Gründer von North Face, Douglas Tompkins, kauft in Chile und Argentinien riesige Ländereien, die er der Natur überlässt. Das ist einer der effektivsten Wege, Vielfalt zu erhalten. Ich würde mir deshalb wünschen, dass mehr vermögende Leute auch bei uns Geld in solche Unternehmungen investieren. Es ist mir aber wichtig, dass daraus kein Gegensatz zum Menschen konstruiert wird.

Die Weltbevölkerung wächst, die fruchtbaren Böden schrumpfen. Wie stehen überhaupt die Chancen, dass man genügend Land für die Vielfalt beiseite stellen kann?
Die Chancen sind leider nicht überwältigend. Länder wie China, Indien oder Saudi Arabien kaufen jetzt in Afrika grosse Landwirtschaftsflächen auf, um ihre zukünftige Bevölkerung ernähren zu können. Diese Länder haben viele Devisen. Ausserdem wird man wohl weder mit aktueller noch mit künftiger Technologie den Flächenertrag weiter extensiv steigern können - und damit sind wir mitten im geopolitischen Konflikt um Land, um Quadratmeter. Das ist für die Biodiversität nicht gut, und um das zu erkennen, muss man kein Wissenschaftler sein.
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