Täglich
hören wir schlechte Nachrichten über den Klimawandel, jetzt kommt
das Jahr der Biodiversität mit ähnlichen Hiobsbotschaften. Steuern
wir auf einen Kollaps bei der biologischen Vielfalt zu?Mit
Ausdrücken wie Kollaps oder Katastrophe muss man vorsichtig sein.
Wir haben aber einen starken Rückgang – menschgemacht – bei der
Biodiversität. Man sollte aber weder einfach den Kopf in den Sand stecken
noch darf man den Verlust der Biodiversität negieren. Die Welt wird
sich verändern, einiges davon sicher nicht zu unserem Vorteil. Was
eine Katastrophe ist, hängt auch von den Wertvorstellungen ab, die
man hat.
Was sind die
Hauptursachen für den Verlust der biologischen Vielfalt?Die Hauptursache ist
die Landnutzung. Der Mensch braucht das Land intensiver als noch vor
100 oder 200 Jahren. Zwar nutzt der Mensch das Land, seit es ihn
gibt. So holzten die Römer im grossen Stil Wälder in Nordafrika ab,
um Schiffe bauen zu können – mit damals verheerenden Folgen. Mit
dem Wachstum der Bevölkerung und der Zunahme der individuellen
Ansprüche hat sich der Verlust an Biodiversität jedoch
beschleunigt. Salopp gesagt: Landwirtschaft statt Regenwald. Ozeane
leiden unter starker Nutzung jenseits der Erträge, die diese
Ökosysteme hergeben. Der Klimawandel wird als weiterer Faktor dazu
kommen.
Weshalb?Der Klimawandel hat
zwei Konsequenzen: Landwirtschaftsgebiete, die einst ertragreich
waren, sind es wegen des Klimawandels nicht mehr. Neue, bisher
unberührte Fläche kommen unter den Pflug. Eine direktere Folge ist,
dass sich für die Arten die Umweltbedingungen ändern. Dadurch gibt
es Verschiebungen. Das Problem ist, ob sich Arten ebenfalls verändern
können. Theoretisch ist es möglich, in der Praxis geht das nur,
wenn die Populationen gross genug sind.
Es sind aber
schon immer Arten ausgestorben.Heute sind
Geschwindigkeit und Dimension ganz anders. Neue Arten werden zwar
laufend entdeckt. Das ist aber nur ein Bruchteil von dem, was es gibt
– und was verloren geht. Das «natürliche» Aussterben ist kein
Argument.
Biodiversität
ist nur für interessierte Laien oder Spezialisten eine Qualität,
der Normalverbraucher kennt ja keine zehn Vogelarten. Wie soll er
Biodiversität als Qualität erkennen?Was man an
persönlichen und kulturellen Werten aus der Biodiversität gewinnt,
ist individuell verschieden. Es ist klar, dass Otto Normalverbraucher
die Waldbäume nicht zwingend kennt. Der Lackmustest ist das
Freizeitverhalten der Menschen. Ich behaupte, dass niemand dorthin
geht, wo die Natur kaputt ist. Man macht keine Ferien im
Autobahnkreuz, sondern geht dahin, wo man baden kann, wo es schön
ist. Das ist gleichbedeutend mit Biodiversität. Natürliche Vielfalt
wird als erholsamer empfunden als eine monotone oder kaputte
Landschaft.
Es geht ja nicht
nur um Ferien und Freizeit. Was leistet die Biodiversität denn sonst
noch für uns?Funktionierende
Ökosysteme bringen uns gesunde Luft, sauberes Wasser oder
«technische Lösungen», wie die Stabilisierung von Berghängen. Ein
diverses Ökosystem ist in aller Regel stabiler als ein artenarmes.
Zudem gibt es die Apotheke Natur. Es gibt Wirkstoffe aus Pflanzen,
die wir noch gar nicht kennen.
Gibt es dafür
Beispiele?Naturstoffe machen
80 bis 90 Prozent unserer Apotheke aus. Ein bestimmtes Immergrün aus
Madagaskar, eine bedrohte Art, produziert ein starkes Zytostatikum
und ist ein potentes Mittel gegen gewisse Krebsarten. Es geht auch um
technische Anwendungen und interessante Werkstoffe. So versuchen
Forscher herauszufinden, weshalb Seepocken so stark haften und woraus
deren Klebstoff besteht, um ihn künstlich herzustellen. In der
Natur, der Vielfalt, sind Millionen von Jahren an Versuch und Irrtum
niedergelegt. Es ist daher absurd, diese Ressource wegzuschmeissen,
ehe wir davon profitieren können. Die ETH würde gut tun daran, der
Ressource Biodiversität noch mehr Beachtung zu schenken.
Was nützt es
aber dem Werkstoffspezialisten, wenn er weder den Namen einer
Pflanze kennt noch welche Ansprüche sie an ihre Umwelt stellt?Man kann nicht nur
die Pflanze nehmen, von der man weiss, dass sie einen Wirkstoff
produziert. Man sollte wissen, wo sie lebt, was sie zum Leben braucht
und wie sie erhalten werden kann. Dazu braucht es bio-ökologische
Forschung sowie taxonomische und systematische Grundlagen. Gerade in
den letzteren Bereichen hat sich die ETH in den letzten Jahren nicht
hervorgetan - übrigens nicht als einzige unter den Hochschulen. Die
Geobotanik ist zwar noch gut vertreten, aber im Bereich der Vielfalt
der Tiere gibt es hier fast nichts mehr ausser der
Insektensammlung.
Man darf die
Eawag lobend erwähnen, was das Leben im Wasser angeht.
Weshalb hat die
ETH beispielsweise die Systematik beinahe abgeschafft? Ist sie zu
wenig prestigeträchtig?Das ist eine Frage
der Prioritäten. Es ist verständlich, dass die ETH andere hat als
eine Universität. Langfristig muss die ETH jedoch ein Interesse
daran haben, die Biodiversität zu erforschen, denn von deren
Verlust sind viele Bereiche betroffen, etwa die Biologie und die
Umweltwissenschaften, die Flaggschiffe der ETH sein sollen.
Umweltforschung ist nicht nur Luftreinhaltung und Abfallbeseitigung,
sondern auch der Erhalt der biologischen Vielfalt. Es wäre sehr
kurzfristig, wenn die ETH nur auf Bereiche wie Systembiologie setzt.
Sie wird der Gesellschaft zwar nützen, aber es ist letztlich nicht
sehr sinnvoll wenn rundherum die Natur verarmt und wir auch nicht
einmal mehr verstehen, wie die Natur oberhalb der Zelle funktioniert.
Dafür kennt man
alle Proteine von Zellen und findet möglicherweise Wirkstoffe gegen
Krankheiten.Das hat natürlich
seine Berechtigung und diese Forschung hat auch Erfolge vorzuweisen,
aber es geht um die Balance der langfristigen Interessen. Die ETH
sollte sich auch bei Biodiversitätsfragen mehr engagieren. Diese
haben die gleiche Brisanz wie Fragen des Klimawandels.
Müssen wir jeden
Baum ein Preisschild ankleben, damit Biodiversität einen Wert
erhält?Als Wissenschaftler
und Mensch hoffe ich das nicht, aber in der heutigen Zeit muss man
als Realist sagen, dass diese Ökonomisierung in unserer Gesellschaft
– und auch an der Hochschule - wichtig geworden ist. Letztlich ist
dies am eingängigsten: Eine intakte Natur hat einen riesigen
monetären Wert. Wenn sie nicht da ist, müssen wir die Leistungen
selber bezahlen.
Wie gross ist der
Wert dieser Naturleistungen?Weltweit geht das
vermutlich an die Trillionen-Grenze. Der Betrag ist ungeheuer hoch,
denn wir müssen nicht bezahlen für Dinge wie die Wasserreinhaltung
oder die Wasserspeicherung in Wäldern. Ein Monokulturwald kann das
nicht in der gleichen Weise leisten. Aber auch die Bestäubung
unserer Kulturpflanzen ist ein wichtiges Thema. Ein See, ein Meer,
kann nicht mit nur einer Art überleben. Es braucht eine
Nahrungskette. Nur so kann man Fische erhalten. Es ist ein
Naturgesetz: Es braucht Diversität, damit auch wir gut leben
können.
Wie bringt man es
in die Köpfe der Politiker hinein, dass der Erhalt der Biodiversität ein wichtiges Anliegen ist?Ich denke, dass das
Bewusstsein gross ist, aber es braucht auch Taten. Es ist tatsächlich
ein ökonomisches Argument. Letztlich ist es besser, wenn man die
Natur ihre Dienste anbieten lässt. Es ist günstiger, als wenn man
alles technisch nachstellen muss. Diesen Vorteil haben wir nur, wenn
Natur vielfältig sein darf.
Sind Schutzgebiete
letztlich das einzige probate Mittel, um die Vielfalt zu
erhalten?Schutzgebiete sind
ein wichtiger Pfeiler. Natur braucht die Abschirmung vom menschlichen
Einfluss. Es braucht aber auch Aufklärung und Bildung, selbst wenn
deren Effekte nicht so gross ist, wie man es sich erhoffen würde.
Wichtig ist auch die persönliche Erfahrung der Leute, die man in
Einrichtungen wie dem Zentrum Sihlwald machen kann. Die Autorität
und Glaubwürdigkeit der Hochschulen in diesem Bereich ist in der
Diskussion mit der Öffentlichkeit und der Politik wichtig. Dabei
sollte auch die ETH ihr Gewicht vermehrt zugunsten von Biodiversität
in die Waagschale werfen.
Schutzgebiete
schafft man aber nicht mit akademischen Diskussionen.Die Natur braucht
Platz. Deshalb sind Naturschutzparks wichtig. Mir ist bewusst, dass
man das nicht gegen den Willen der Bevölkerung tun kann, aber wir
sitzen alle im gleichen Boot. Etwas vom Besten, was
Naturschutzorganisationen tun können, ist, Land zu kaufen. Der
Gründer von North Face, Douglas Tompkins, kauft in Chile und
Argentinien riesige Ländereien, die er der Natur überlässt. Das
ist einer der effektivsten Wege, Vielfalt zu erhalten. Ich würde mir
deshalb wünschen, dass mehr vermögende Leute auch bei uns Geld in
solche Unternehmungen investieren. Es ist mir aber wichtig, dass
daraus kein Gegensatz zum Menschen konstruiert wird.
Die
Weltbevölkerung wächst, die fruchtbaren Böden schrumpfen. Wie
stehen überhaupt die Chancen, dass man genügend Land für die
Vielfalt beiseite stellen kann?Die Chancen sind
leider nicht überwältigend. Länder wie China, Indien oder Saudi
Arabien kaufen jetzt in Afrika grosse Landwirtschaftsflächen auf, um
ihre zukünftige Bevölkerung ernähren zu können. Diese Länder
haben viele Devisen. Ausserdem wird man wohl weder mit aktueller noch
mit künftiger Technologie den Flächenertrag weiter extensiv
steigern können - und damit sind wir mitten im geopolitischen
Konflikt um Land, um Quadratmeter. Das ist für die Biodiversität
nicht gut, und um das zu erkennen, muss man kein Wissenschaftler
sein.