Berlin (agrar-PR) - Umwelt- und Verkehrsverbände ziehen vernichtende Bilanz der
Luftreinhaltepolitik und fragen "Wo ist Umweltminister Röttgen?"– EU
prüft Einleitung eines Vertragsverletzungsverfahrens wegen fortgesetzter
Überschreitung der Feinstaubgrenzwerte Bundesregierung plant Ende der
Rußfilternachrüstförderung und Aufweichung von Umweltzonen –
Umweltpolitik absurd: Strafsteuer für ungefilterte Diesel-Pkw wird ab
1.4.2011 nicht mehr erhoben – Forderung der Umweltverbände:
Weiterführung der Strafsteuer für Dieselfahrzeuge und aufkommensneutrale
Verwendung des Geldes für die Rußpartikelnachrüstung von Pkw und
leichten Nutzfahrzeugen
In einem gemeinsamen Appell machen vier
führende Umwelt- und Verkehrsverbände auf die derzeit stattfindende
"Abwicklung der Luftreinhaltepolitik" aufmerksam. Während mehr als 40
Kommunen und Ballungsräumen hohe Strafzahlungen wegen Nichteinhaltung
der verbindlichen Luftreinhaltewerte drohen, plant die Bundesregierung
die Streichung gleich mehrerer Luftreinhalteregelungen: Zum
Jahreswechsel soll die Förderung von nachträglich eingebauten
Dieselrußpartikelfiltern fallen, die geplante Erhöhung der Maut für
EURO-III-Lkw fällt aus, und ab dem 1. April 2011 sollen gar ungefilterte
Dieselfahrzeuge von der Strafsteuer befreit werden. Parallel plant die
Bundesregierung eine Aufweichung der Einfahrvorschriften für
Umweltzonen.
Die von Feinstaub und Stickoxiden geplagten Kommunen
und vor allem die an den stark befahrenen Straßen lebenden Bürger
werden ab 2011 bei der Problemlösung allein gelassen. Mit weiteren
Übergangsfristen seitens der EU können sie nicht rechnen. Im Gegenteil:
Die EU-Kommission entscheidet bereits im November über die Einleitung
eines Vertragsverletzungs-verfahrens gegen Deutschland mit hohen
Bußgeldforderungen. Mit anderen Worten: Das offensichtliche Desinteresse
von Bundesumweltminister Norbert Röttgen (CDU) an einer besseren
Luftqualität kostet den Steuerzahler dann auch noch Geld.
Die
Umweltschutzverbände Bund für Umwelt- und Naturschutz Deutschland e. V.
(BUND), Deutsche Umwelthilfe e.V. (DUH), Naturschutzbund Deutschland e.
V. (NABU) und Verkehrsclub Deutschland e. V. (VCD) fordern
Umweltminister Norbert Röttgen auf, den betroffenen Städten und Kommunen
bei der Einhaltung der Feinstaub- und Stickoxidgrenzwerte zu helfen.
Mehr als 100 Millionen Euro zweckgebunden eingenommene Steuergelder hat
die Bundesregierung bislang noch nicht für die Nachrüstung von
ungefilterten Diesel-Pkw ausgegeben. Die Umweltschutzverbände fordern
die Bundesregierung auf, die Nachrüstförderung 2011 fortzusetzen und die
ungefilterten Diesel-Pkw nicht finanziell zu begünstigen, wie ab dem 1.
April 2011 vorgesehen.
Während Wirtschaftsminister Brüderle und
Verkehrsminister Ramsauer die bereits beschlossene Mauterhöhung für
ungefilterte Lkw rückabwickeln und für 'freie Fahrt für Dieselstinker'
kämpfen, hört man nichts vom eigentlich zuständigen
Bundesumweltminister. Wie in vielen anderen Bereichen der Umweltpolitik
stellt sich die Frage: "Wo ist Röttgen"? Und warum kämpft er nicht – wie
alle seiner Vorgänger im Amt - für die Einhaltung der Umweltstandards
gerade in der Luftreinhaltepolitik?", fragt sich
DUH-Bundesgeschäftsführer Jürgen Resch. Während sich andere
Kabinettsmitglieder lautstark für den Abbau von Umweltstandards
einsetzen, schweigt der Bundesumweltminister. Wenn der Finanzminister
mehr als 100 Millionen Euro für die Nachrüstung zweckgebundener
Maluseinnahmen für andere Zwecke verwendet, kommt von Röttgen kein
Widerstand. Nicht einmal die geplante Steuervergünstigung für
Die-selstinker ab dem 1. April 2011 schreckt den Bundesumweltminister
auf. Die Bundesregierung lässt die Städte und Kommunen ausgerechnet dann
im Stich, wenn die EU-Kommission eine weitere Verschiebung der
Luftreinhalteprobleme in den Ballungszonen nicht mehr länger dulden
wird", sagte Resch. Die Städte können nach dem 1. Juni 2011 keine
Anträge mehr auf Fristverlängerung zur Einhaltung der Grenzwerte
stellen.
"Feinstaub aus Autos, Transportern und Lkw macht
Deutschland zu einem Land mit 82 Millionen Passivrauchern. Mensch und
Umwelt haben jedoch das verbriefte Recht auf saubere Luft. Maßnahmen zur
Luftreinhaltung sind daher eine unabdingbare Voraussetzung für den
Gesundheitsschutz und den Schutz der Ökosysteme", sagte Dietmar Oeliger,
Verkehrsexperte des Naturschutzbundes Deutschland e.V. (NABU). Die
Wirkung von Feinstaubpartikeln auf Lunge und Herzkreislaufsystem sei
längst nachgewiesen. Oeliger sagte, dass Klein- und Kleinstpartikel beim
Menschen verstärkt Allergien, Asthmaanfälle und Bronchitis auslösen.
Außerdem steige wissenschaftlich bewiesen das Risiko für Herzinfarkt und
Krebs bei höherer Feinstaubbelastung an. Oeliger wies darauf hin, dass
Feinstaub und Stickoxide Jahr für Jahr allein in Deutschland für rund
70.000 vorzeitige Todesfälle verantwortlich gemacht werden. In der EU
sind es insgesamt ca. 320.000 vorzeitige Todesfälle. Damit sei die
Feinstaubbelastung mit der Gefahr des Tabakkonsums vergleichbar.
Auch
Dr. Werner Reh, Leiter des Verkehrsbereichs beim Bund für Umwelt und
Naturschutz e.V. (BUND), forderte, dass "die Bundesregierung die
Rußfilter-Nachrüstförderung für Pkw und leichte Nutzfahrzeuge fortsetzt
und auch auf schwere Nutzfahrzeuge ausdehnt." Handwerker,
Gewerbetreibende und auch private Pkw-Halter seien auf die Förderung
angewiesen, um die Luftreinhaltevorgaben zu erfüllen. "Wer die
Filterförderung gerade dann abschafft, wenn mehr und mehr Städte die
Umweltzonen verschärfen, muss sich fragen lassen, ob er dadurch gezielt
Politikverdrossenheit und Wut der Bürger gegen die Stadtregierungen
anheizen will, die etwas für den Gesundheitsschutz tun", sagte Reh. Für
Städte wie Berlin, die bei den Luftreinhaltungsmaßnahmen vorbildlich
sind, seien die Anreize für die Umrüstung unverzichtbar, um weiterhin
die Berliner Kfz-Flotte zu modernisieren und sauberer zu machen.
Außerdem würden durch die Einstellung der Förderung viele
mittelständische Arbeitsplätze gefährdet.
Gerd Lottsiepen,
verkehrspolitischer Sprecher des ökologischen Verkehrsclubs VCD, stellte
fest: "Es besteht überhaupt kein Sparzwang. Die Bundesregierung hat
2007 bei der Kfz-Steuer eine Malus-Zahlung von 1,20 Euro pro 100
Kubikzentimeter für Diesel-Pkw ohne Filter eingeführt. Die
Maluseinnahmen sollten komplett für Nachrüstungen ausgegeben werden. Es
ist noch genug Geld in dieser Kasse, das auch über 2010 hinaus
bestimmungsgemäß verwendet werden sollte." Den Besitzern von Diesel-Pkw
ohne Filter rät Lottsiepen trotzdem: "Nachrüsten jetzt! Das ist auf
jeden Fall gut für die Gesundheit und das Klima. Die Förderung ist heute
nur für 2010 sichergestellt und das Gedränge in den Werkstätten nimmt
in den nächsten Wochen zu. Für die meisten Pkw gibt es den passenden
Nachrüstfilter, wie die Datenbank www.partikelfilter-nachruesten.de
zeigt." Halter von Pkw und leichten Nutzfahrzeugen können hier einfach
und nutzerfreundlich ihr Fahrzeugmodell eingeben und erhalten sowohl den
Filterhersteller als auch die voraussichtlichen Kosten angezeigt.
Dass
Dieselruß neben Kohlendioxid ein wesentlicher Faktor bei der
Klimaerwärmung ist, erläuterte Dr. Axel Friedrich, internationaler
Experte für Luftreinhaltung und Verkehrspolitik. In Europa stammt der
Hauptteil des Rußes aus dem Straßenverkehr. Die Rußteilchen werden mit
den vorherrschenden Winden bis in die Arktis und auf die Gletscher
getragen, legen sich dort wie ein Grauschleier auf die Eisflächen und
beschleunigen dadurch das Abschmelzen. "Wer heute Klimaschutz betreibt,
muss nicht nur an die Minderung von Kohlendioxid, sondern darüber hinaus
auch an die Reduktion von Ruß denken. Deutschland hat bisher ein sehr
erfolgreiches Nachrüstprogramm für Dieselfahrzeuge und hat hier
beispielgebend für viele Länder die Technik vorangetrieben. Es ist nicht
nachvollziehbar, warum diese Programm nicht weitergeführt wird", sagte
Friedrich.
Hintergrund Am 1. Juni 2011 läuft die letzte
Übergangsfrist der EU-Kommission zur Einhaltung der
EU-Feinstaubgrenzwerte für Städte und Kommunen aus. Viele Kommunen
verdrängen derzeit noch diese von der EU eingeräumten Übergangsfristen,
ihnen drohen aber Bußgelder bei einer fortdauernden Überschreitung der
EU-Feinstaubgrenzwerte. Die Bundesregierung hat nämlich bereits
angekündigt, dass sie etwaige Strafgeldforderungen der EU an die
Bundesländer bzw. Kommunen abwälzen wird. Der Druck innerhalb der Städte
und Kommunen, Umweltzonen einzurichten, wird damit zunehmen. In
Deutschland gibt es derzeit 42 Umweltzonen, in die Fahrzeuge nur mit
einer Feinstaubplakette fahren dürfen. Ziel der Kommunen ist es, mit den
Umweltzonen die Luftqualität zu verbessern. Im Jahr 2011 kommen
mindestens fünf Umweltzonen in Deutschland hinzu. Die drohenden
EU-Bußgeldverfahren werden vermutlich zu einer beschleunigten
Verschärfung einer Reihe von Umweltzonen hin zu einem Einfahrverbot für
Fahrzeuge ohne bzw. nur mit roter oder gelber Plakette führen.