20.01.2012 | 12:20:00 | ID: 11950 | Ressort: Landwirtschaft | Agrarpolitik

Agrarpolitik trifft Agrarwissenschaften

Göttingen (agrar-PR) - Wie geht es weiter mit der Gemeinsamen Agrarpolitik der Europäischen Union zwischen 2014 und 2020?
Diese Frage wurde am Mittwoch, den 11.01.2012 an der Georg-August-Universität Göttingen zwischen den Vertretern der Parteien im Agrarausschuss des Deutschen Bundestages, Studierenden und Wissenschaftlern der Fakultät für Agrarwissenschaften diskutiert.

Derzeit verhandeln die Mitgliedsstaaten der EU und das Europäische Parlament über den EU-Haushalt 2014-2020. Aktuell, im Jahr 2011 liegen die Ausgaben für die Gemeinsame Agrarpolitik in der Europäischen Union (GAP) bei ca. 55 Mrd. Euro und machen damit 43% des Gesamthaushaltes aus. Daneben hat Agrarkommissar Dacian Cioloș im Oktober 2011 einen Reformvorschlag für die GAP zwischen 2014 und 2020 vorgelegt, der sich zur Zeit im EU-Gesetzgebungsverfahren befindet und ebenso von den Mitgliedsstaaten und dem EU-Parlament diskutiert wird.

Der Deutsche Bundestag wird dieses Jahr über die Position Deutschlands in diesem Verhandlungsprozess debattieren, insofern gab es viel Gesprächsstoff. Professoren und Wissenschaftler aus Göttingen hatten eine Reihe von Argumenten und Kritikpunkten an der Reform in einem Diskussionspapier zusammengefasst.

Für die Diskussion, die in der Niedersächsischen Staats- und Universitätsbibliothek stattfand, waren Vertreter aus dem Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz angereist1. Neben dem Ausschussvorsitzenden, Hans-Michael Goldmann (FDP) beteiligten sich für die Koalitionsparteien Dieter Stier (CDU/CSU) und Dr. Christel Happach-Kasan (FDP) an der Diskussion.

Für die Opposition waren Dr. Wilhelm Priesmeier (SPD), Friedrich Ostendorff (Bündnis90/Die Grünen) und Dr. Kirsten Tackmann (Die Linke) angereist. Auch die Europäische Kommission hatte mit Dr. Willi Schulz-Greve einen Vertreter entsandt. Schulz-Greve arbeitet seit 1996 bei der Europäischen Kommission und ist Leiter der Abteilung „Wirtschaftliche Analyse der Land-wirtschaft“. Die Nichtregierungsorganisation Gremanwatch e.V. war mit dem Leiter der Arbeitsgruppe “Welternährung, Landnutzung und Handel”, Tobias Reichert vertreten.

Der erste Teil des Besuchs bestand in einer Diskussion mit Studierenden der Agrarwissenschaften. Die Relevanz des Themas zeigte sich an den enormen Andrang, über 120 Studierende, jedoch auch zahlreiche Professoren und Emeriti nahmen an der Veranstaltung teil. Nach Grußworten von Universitäts-Vizepräsident Prof. Dr. Wolfgang Lücke und Dekan Prof. Dr. Achim Spiller, gab Dr. Willi Schulz-Greve einen Überblick über die Reformvorschläge. Er wies darauf hin, dass EU-Kommissar Dacian Cioloș vor der Reform einen umfassenden Diskussionsprozess mit Bürgern der Europäischen Union durchgeführt habe und der Reformvorschlag insofern die Kritik und die Sichtweise vieler EU-Bürger aufgreife.

Anschließend kommentierten die Parteienvertreter und Germanwatch die Reform aus ihrer Sicht, wonach die Diskussion für das Publikum eröffnet wurde.

Es zeigte sich, dass die Koalitionsfraktionen den Entwurf des Agrarkommissars insgesamt sehr kritisch beurteilten. Vor allem die sogenannte „Begrünung” der Direktzahlungen (Greening) stand aus Sicht von CDU und FDP in der Kritik, da die vorgesehenen Umweltmaßnahmen für landwirtschaftliche Betriebe, die Direktzahlungen erhalten, verpflichtend vorgeschrieben sind. Auch die Kürzung der Direktzahlungen für große Betriebe (Deckelung) wurde abgelehnt.

Christel Happach-Kasan (FDP) bemängelte zusätzlich, dass das Nitrat- Problem von der Reform nicht angegangen werde. Weiterhin kritisierte sie, dass der EU-Haushalt nur 2% für Forschung vorsieht, insofern sei die Reform „rückwärtsgewandt“.

Dieter Stier (CDU/CSU) kritisierte die Deckelung der Zahlungen bei großen Betrieben, zumal Cross-Compliance den Landwirten „das Leben vor Ort nicht wirklich leicht macht“. Er sprach sich für mehr Wettbewerb und weniger Verwaltung aus.

Dagegen sahen die Oppositionsparteien auch positive Punkte im Reformvorschlag. Die stärkere Umweltausrichtung der Direktzahlungen über das Greening wurde von allen drei Oppositionsparteien begrüßt.

Dennoch kritisierte Friedrich Ostendorff (Bündnis 90/Die Grünen) den „Zusammenbruch der Biodiversität“ und forderte eine Stärkung der Agrarumweltmaßnahmen in der II. Säule der Gemeinsamen Agrarpolitik. Er sprach sich für die Deckelung der Direktzahlungen bei Großbetrieben aus.

Laut Kirsten Tackmann (Die Linke) ist ihre Partei mit der Stoßrichtung der Reform einverstanden. Sie beuteilte die Deckelung kritisch, begrüßte dabei allerdings die Berücksichtigung von Lohnkosten, da viele Großbetriebe im ländlichen Raum Arbeitsplätze schafften und diese Leistung bei der Deckelung berücksichtigt werden müsse.

Wilhelm Priesmeier (SPD) unterstützt im Wesentlichen die Vorschläge der Kommission. Er kritisierte die enge Zusammenarbeit zwischen Bauernverband und dem Ministerium für Ernährung Landwirtschaft und Verbraucherschutz. Er forderte, Agrarpolitik nicht als Sozialpolitik, sondern als Politik für den ländlichen Raum zu gestalten. Daher lehnte er Einkommenstransfers für die Landwirtschaft ab und forderte mehr öffentliche Leistung für Steuergelder. Er begrüßte die Greening-Maßnahmen, lehnte die Kappung jedoch ab.

Stellvertretend für Germanwatch und andere Nichtregierungsorganisationen kritisierte Tobias Reichert die Reformvorschläge als ungenügend. Vor allem die hohen Futtermittelimporte und die stark auf Importe ausgerichtete Tierproduktion würden durch die Reform nicht angegangen. Reichert wies darauf hin, dass jeder Bundesbürger über den Fleischkonsum Futterflächen in Brasilien nutze. Dieses globale Problem würde durch die EU-Agrarpolitik bisher vernachlässigt.

Die Fragen der Studierenden richteten sich vor allem auf Widersprüche zwischen der Wettbewerbsfähigkeit und der Umweltausrichtung der Agrarpolitik. Daneben wurde jedoch auch über den Sinn und die Effizienz des Greenings diskutiert, wobei sowohl Forderungen nach mehr, als auch nach weniger Umweltleistungen gab.

Der zweite Teil der Veranstaltung bestand aus einer Diskussion zwischen den Politikern und Professoren der Fakultät für Agrarwissenschaften in Göttingen sowie zwei Wissenschaftlern des Fachbereichs 11 Ökologische Agrarwissenschaften der benachbarten Universität Kassel/ Witzenhausen. Hierbei stellten die Wissenschaftler vor allem ihre Sichtweisen heraus: So gäbe es aus fachlicher Sicht der Grasslandwissenschaften, der Biodiversität und des Ökologischen Pflanzenbaus einige gute Gründe für die Greening-Maßnahmen bzw. für eine stärkere Orientierung der Agrarpolitik an Umweltzielen.

Andererseits betonten die Vertreter der ökonomischen Disziplinen die Ineffizienz der vorgeschlagenen Maßnahmen. Hierbei wurde die Diskussion auf die Greening-Maßnahmen fokussiert.

Auch das Weiterreichen der Direktzahlungen vom Bewirtschafter zum Landeigentümer, das durch die Reform nicht gelöst würde, wurde diskutiert. Kritisiert wurde auch, dass für eine auf Einkommen ausgerichtete Politik bisher Bedürftigkeitskriterien und insofern eine wissenschaftliche Grundlage fehle.

Am Ende der Veranstaltung vereinbarten beide Seiten eine Fortsetzung des interessanten Dialoges. (gwdg)
Pressemeldung Download: 


© proplanta 2006-2024. Alle Rechte vorbehalten.