18.04.2024 | 20:50:00 | ID: 39234 | Ressort: Verbraucher | Verbraucherschutz

Statt echter Stärkung von Alternativer Streitbeilegung Verwässerung des Konzepts

Stuttgart (agrar-PR) - Nach wie vor bestehen erhebliche Zweifel, ob der zwischenzeitlich am 13. März 2024 vom Europäischen Parlament in erster Lesung mit Änderungen angenommene Vorschlag für eine Richtlinie zur Änderung der Richtlinie 2013/11/EU über die alternative Streitbeilegung bei Verbraucherrechtsstreitigkeiten[1] (AS) diesem Instrument zu mehr Wirksamkeit verhelfen wird oder sogar das Gegenteil bewirkt. Die Verbraucherkommission empfiehlt der baden-württembergischen Landesregierung sowie allen beteiligten Entscheidungsträgerinnen- und trägern, sich weiterhin nachdrücklich in Berlin wie Brüssel für die bereits in der Stellungnahme der Verbraucherkommission Nr. 72/2023[2] empfohlenen Änderungen einzusetzen.

Die bereits in der vorgenannten Stellungnahme identifizierten Probleme wurden nach wie vor nicht behoben und bleiben weiter aktuell:

Nach wie vor sind die Verbindung vom Grundsatz der Freiwilligkeit der Teilnahme an AS-Verfahren und die überwiegende Kostenpflicht für Unternehmen ein Grundproblem, das verstärkt wird durch den noch zu geringen Bekanntheitsgrad in der Bevölkerung. Möchte man der Alternativen Streitbeilegung zu einem großflächig angelegten Durchbruch verhelfen, muss hier angesetzt werden. Lösungsvorschläge wurden bereits in der vergangenen Stellungnahme aufgezeigt in Hinblick auf Kostenanreize, Erhöhung der Teilnahmebereitschaft und verbesserte Information. Auf diese wird insoweit verwiesen.

Mit dieser heutigen Stellungnahme wird der Fokus aber auch auf zwei Aspekte des Richtlinienentwurfs gelegt, die sich bei oberflächlicher Betrachtung wie eine Stärkung von Alternativer Streitbeilegung lesen, sich bei genauer Betrachtung aber als kontraproduktiv erweisen:

- Die Vermengung der Rollen von parteiischem Verbraucherschutz und neutraler Schlichtung.

- Eine zwingend vorgegebene weltweite Zuständigkeit.


Zur Vermengung der Rollen:

An verschiedenen Stellen des Richtlinienentwurfs verschwimmen die Konturen zwischen Verbraucherberatung, Alternativer Streitbeilegung und Rechtsdurchsetzung; die flankierende Empfehlung über Qualitätsanforderungen an Streitbeilegungsverfahren, die von Online-Marktplätzen und Wirtschaftsverbänden der Union angeboten werden, bringt umgekehrt auch den Kundenservice von Online-Plattformen in die Nähe von Alternativer Streitbeilegung. Das Parlament hat nun sogar einen Erwägungsgrund 5a für die Richtlinie beschlossen, nach dem die Mitgliedsstaaten dieser Empfehlung besondere Rechnung tragen sollen und die Kommission eine entsprechende Verordnung vorschlagen soll.

Damit wird Alternative Streitbeilegung zu einem konturlosen Begriff, was der oben genannten Lösung der Grundprobleme – Bekanntheit und Akzeptanz – abträglich sein dürfte.

Außerdem besteht die Gefahr, ein funktionierendes Gesamtgefüge aus Verbraucherberatung, Alternativer Streitbeilegung und Rechtsdurchsetzung zu beeinträchtigen.

Kernelement der Alternativen Streitbeilegung ist weiter Vertrauen in die Neutralität auf Seiten der Verbraucher und Unternehmen. Auch dieses ist so schwer zu vermitteln, wenn z. B. nach dem Vorschlag AS-Stellen als Ausnahme von dem Prinzip der Vertraulichkeit nach einem neu einzufügenden Artikel 17 Abs. 5 die zuständige nationale Behörde informieren sollen, wenn sie Kenntnis über unlautere Praktiken erhalten. Selbstverständlich sind solche nicht hinnehmbar; hierfür gibt es aber bereits bestehende Mechanismen und Institutionen im Bereich Verbraucherschutz und Marktaufsicht.

Zur weltweiten Zuständigkeit:

Bei oberflächlicher Betrachtung wirkt die geografische Zuständigkeitserweiterung wie eine Stärkung von Schlichtung, zum Nutzen der europäischen Verbraucherinnen und Verbraucher, die außerhalb des Europäischen Wirtschaftsraums (EWR) einkaufen. Sie birgt aber verschiedene Risiken, kostet die Mitgliedsstaaten zudem potenziell viel Geld und ist außerdem nicht erforderlich, da sie bisher schon möglich ist, wenn sich ADR-Stellen gezielt dafür öffnen, wie etwa in Deutschland die söp-Schlichtungsstelle für den öffentlichen Personenverkehr.

Zumindest in Deutschland, wo die allermeisten AS-Stellen Schlichtung als Verfahrensmethode vorsehen, die im Gegensatz zu Mediation nach § 19 VSBG eine fundierte rechtliche Bewertung des Fall beinhaltet, wäre ein Festhalten an dieser Methode so gut wie ausgeschlossen, wenn eine Auseinandersetzung mit dem Internationalen Privatrecht und in dessen Folge ggf. ausländisches materielles Recht beachtet werden muss (der Richtlinienentwurf bietet für grenzüberschreitende Fälle aber ggf. eine Erleichterung in einem neu einzufügenden Erwägungsgrund 15b, spezifiziert dies aber nicht ausreichend). Dieser Aufwand steht außer Verhältnis zu den oft geringen Streitwerten; abgesehen davon wäre er realistisch kaum leistbar. Hinzu kommen sprachliche Probleme.

Im Übrigen wäre eine auf der Website von Unternehmen außerhalb des EWR signalisierte Teilnahmebereitschaft/-verpflichtung kaum durchsetzbar; ebenso wenig wie Vergleichsvereinbarungen. Hier könnte es zu Frustrationen kommen, die der Schlichtung insgesamt schaden könnten, wenn sie als Feigenblatt wahrgenommen werden könnte.

Nach dem aktuellen Richtlinienvorschlag müssten die Mitgliedstaaten für eine solche weltweite Zuständigkeit sorgen. Sofern es hier nicht zu einer Abdeckung durch private AS-Stellen kommt, müssten die Mitgliedstaaten ihre Residual-AS-Stellen entsprechend mit Mitteln ausstatten. Es könnte dazu kommen, dass viele Anträge gestellt werden, die letztlich nicht zu einem AS-Verfahren führen.

Ein sehr relevantes, aktuelles Beispiel für weltweites Online-Shoppen ist Temu, eine Plattform, die Zugang zu Produkten direkt aus China bietet und Verbraucherinnen und Verbraucher auch aus Deutschland direkt an chinesische Unternehmen vermittelt, und die aktuell immer wieder in der Kritik steht. Problematisch sind unter anderem Nachhaltigkeitsaspekte, fehlende Sicherheitskennzeichnungen, Datenschutz, Arbeitsbedingungen bei der Produktion der Waren.[3] Da die App dieser Plattform so oft wie keine andere Shopping-App in Deutschland heruntergeladen wurde, könnte es leicht zu einer Vielzahl von Anträgen kommen. Kommt es dann aber nicht zu AS-Verfahren, müssten die Anträge der Verbraucherinnen und Verbraucher trotzdem einzeln von der AS-Stelle gesichtet und bearbeitet werden, was hohe Kosten generiert, die im Zweifel von den Mitgliedsstaaten und damit den Steuerzahlenden zu tragen wären.

Doch selbst wenn sich alle genannten Herausforderungen (rechtliche Prüfung, Sprache, Zahlung der Gebühren und Einhaltung der Schlichtungsvorschläge) in der Praxis als machbar erweisen würden, stellt sich die Frage, warum durch eine EU-Richtlinie Verbraucherinnen und Verbraucher mittelbar ermutigt werden, außerhalb des Binnenmarkts einzukaufen, dessen Errungenschaft ja gerade ein hohes, voll- oder mindestharmonisiertes Verbraucherschutzniveau ist.

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