23.01.2024 | 14:42:00 | ID: 38692 | Ressort: Landwirtschaft | Agrarpolitik

Freifahrtschein für Agro-Gentechnik (NGTs)?

Brüssel (agrar-PR) - Stand der Dinge vor der Abstimmung im zuständigen Umwelt- und Gesundheitsausschuss des Europäischen Parlaments
Um was es geht

Am 5. Juli 2023 hat die EU-Kommission ihren Deregulierungsvorschlag für Pflanzen, die mit ‚neuen genomischen Techniken‘ hergestellt wurden sowie Lebens- und Futtermittel daraus, veröffentlicht. Zu diesen Techniken gehört beispielsweise CrisprCas. Die EU-Kommission will mit diesem Vorschlag den Anbau und die Nutzung dieser Gentechnikpflanzen erleichtern. Dafür bringt sie die Grundpfeiler der bisherigen EU-Gentechnikgesetzgebung zum Einsturz: sie streicht die Risikobewertung, das Monitoring sowie die Rückverfolgbarkeit und Kennzeichnung von Pflanzen und Produkten, die mit neuer Gentechnik hergestellt sind oder diese enthalten. Mein Briefing zum Kommissionsvorschlag findet sich hier.

EVP hat den Vorsitz bei Verhandlungen im Europäischen Parlament

Die konservative Volkspartei EVP (zu ihr gehören CDU/CSU) stellt die Berichterstatterin im Europaparlament (EP) – und hat damit die größte Gestaltungsmacht – bei der Formulierung des Standpunktes zum Kommissionsvorschlag. Ich bin zuständiger Verhandlungsführer für die Grünen/EFA im Umweltausschuss.

Undemokratisches Tempo und Verhandlungen

In einem unangemessen rasanten Tempo, das die EVP-Berichterstatterin Jessica Pölfjard vorgegeben hat, hat das EP-Verhandlungsteam sich in den letzten sieben Wochen (nur!) mit dem Kommissionsvorschlag auseinandergesetzt. Einem legislativen Vorschlag, der so gravierende Auswirkungen hat, so wenig Zeit einzuräumen ist völlig unüblich. Die Berichterstatterin hat sich nur dreimal mit den Abgeordneten der anderen Fraktionen zu einem Austausch getroffen und die Ausgestaltung der EP-Position den Fraktionsmitarbeitenden in den sogenannten technischen Treffen überlassen. Gründliche politische Verhandlungen sehen anders aus!

Ratsposition

Zeitgleich befasste sich der EU-Agrarrat (die Landwirtschaftsminister der Mitgliedstaaten) mit dem Vorschlag, um eine Position der EU-Mitgliedsländer zu erarbeiten. In der zweiten Jahreshälfte 2023 hatte Spanien den Vorsitz der Ratspräsidentschaft inne und hatte angekündigt, die Ratsposition bis Jahresende erarbeitet zu haben. Daraus wurde nichts, bei einer Abstimmung im Dezember fand sich keine Mehrheit für den Deregulierungsvorschlag. Strittige Frage ist v.a. die Patentierbarkeit von NGT-Pflanzen und ein im Dezember von der französischen Agentur ANSES herausgebrachtes Gutachten sorgt für die Diskussionen. Dieses stellt die wissenschaftliche Grundlage für den Deregulierungsvorschlag in Frage. Zustimmung erhielt der Kompromissvorschlag unter anderem von Dänemark, Frankreich, Italien, und den Niederlanden. Abgelehnt wurde er von Kroatien, Ungarn, Rumänien und Polen. Der deutsche Landwirtschaftsminister Cem Özdemir enthielt sich bei der Abstimmung.

Zeitplan und Bewertung des EP-Standpunktes

Aktuell befinden wir uns im EU-Parlament auf der Zielgeraden zur Position des federführenden
Umweltausschusses. Am 24.1.24 wird dieser seine Position abstimmen.
Die zur Abstimmung gestellten Texte sind aus unserer Sicht fast alle sehr schlecht (konkrete Punkte, s.u.). Falls die Mehrheit der Abgeordneten für sie stimmt, und das Plenum nichts mehr ändert, wird das Parlament mit einer Position der raschen Deregulierung der Neuen Gentechnik und einer Untergrabung des Vorsorgeprinzips und der Verbraucherrechte in die Verhandlungen mit dem Rat der Mitgliedstaaten und der Kommission (Trilog) gehen. Aus grüner Sicht muss das unbedingt verhindert werden.

Eine Zulassung und Nutzung der neuen Agro-Gentechnik (NGT) in der EU muss zwingend gekoppelt sein an bestimmte Vorkehrungen für Umwelt und Verbraucher:innen im Sinne des in den europäischen Verträgen verankerten Vorsorgeprinzips. Darunter fallen insbesondere eine umfassende Risikoprüfung der neuen Pflanzen im Zulassungsprozess, ihre Nachverfolgbarkeit und die Kennzeichnung aller NGTPflanzen und der aus ihnen hergestellten Erzeugnisse. Verbraucher:innen müssen erkennen können, welche Lebensmittel mit Neuer Gentechnik hergestellt worden sind. Kennzeichnung und umfangreiche Co-Existenzmaßnahmen müssen dafür sorgen, dass gentechnikfrei arbeitende landwirtschaftliche Betriebe und Verarbeiter gentechnikfrei bleiben können. Zudem muss es die Möglichkeit eines Optouts
geben, so, wie es die bestehende gesetzliche Regelung erlaubt: EU-Mitgliedsstaaten, die keine
neue Gentechnik zulassen wollen, müssen gentechnikfrei bleiben können.

Hauptkritikpunkte am ENVI-Text in aller Kürze

Der Deregulierungsdruck, den die Konservativen (EVP) sowie eine Mehrheit der Liberalen (Renew) und ultra-konservativen bzw. rechten Fraktionen (ECR und ID) ausüben hat bei den Verhandlungen im EP aufgrund der Mehrheitsverhältnisse zu gemeinsamen Kompromissen für eine EP-Position geführt, die wir Grüne, bis auf zwei Ausnahmen, nicht teilen können. Die Sozialisten und Linken liegen größtenteils mit uns auf einer Linie, können aber zahlenmäßig wenig ausrichten.

Folgende hochproblematische Positionen werden am 24.1. zur Abstimmung gebracht werden. Es ist essentiell, dass alle Abgeordnete, denen ein angemessen umsichtiger Umgang mit dieser
Risikotechnologie ein Anliegen ist, diesen Kompromissen nicht zustimmen.

• Keine Kennzeichnung – Keine Wahlfreiheit

Der Kompromiss sieht keinerlei Kennzeichnung für Pflanzen und deren Erzeugnisse vor, die unter die NGT 1-Kategorie fallen, (das wären 94 % aller durch NGT veränderten Pflanzen). Das bedeutet konkret, dass weder Betriebe, die Pflanzen verarbeiten (Müsli, Tomatensauce, Fertiggerichte…), noch Verbraucher:Innen beim Einkaufen oder beim Außer-Haus-Verzehr wissen können, ob sie
entsprechendes gentechnisch verändertes Material verwenden bzw. konsumieren.
Verbraucher:Innenumfragen belegen immer wieder, dass die Wahlfreiheit und Gentechnikfreiheit für die Menschen in der EU ein sehr wichtiges Gut ist; das darf nicht ohne Not verspielt werden. Die Branche gentechnikfreier Produkte ist eine Wachstumsbranche und eine hoch geschätzte
Qualitätsproduktion in Europa. Eine Gentechnik-Kennzeichnung ist daher unabdingbar: Wie sonst kann man eine informierte Kaufentscheidung treffen? Und warum sollte etwas, das den Menschen so wichtig ist, nicht auf dem Etikett kenntlich gemacht werden? Wie rechtfertigen Kommission und
Konservative im EP die Zerschlagung eines ganzen erfolgreichen Wirtschaftszweiges? 2022 wurden
allein in Deutschland mit „Ohne Gentechnik“ gelabelten konventionellen Lebensmitteln 16 Milliarden Euro erwirtschaftet.

• Ziel 25 % Ökolandbau ausbremsen?

Die Biobranche ist per Definition und laut EU-Ökoverordnung gentechnikfrei und soll das auch bleiben. Die EU-Kommission hat in ihrem Deregulierungsvorschlag vorgesehen, dass NGTs im Bioanbau nicht erlaubt sein sollen. Die EVP-Berichterstatterin sieht das anders – sie will Bio-Züchter und Landwirtinnen „nicht diskriminieren“, ergo mit Gentechnik zwangsbeglücken. In dem nun zur Abstimmung stehenden Text des Umweltausschusses gibt es so nun zwar wieder einen Satz, dass NGTs im Biolandbau verboten sein sollen, aber durch andere Stellen im Text wird die Umsetzung dieses Verbots in der Praxis unmöglich gemacht: es gibt keinerlei Auflagen zum Nachweis von NGTs und keinerlei Co-Existenz-Vorkehrungen. Auch die Haftungsfrage ‚Wer haftet, wenn es zu einer Gentechnikverunreinigung kommt?‘ wird komplett ausgeklammert.

• EU-Staaten sollen mit Neuer Gentechnik zwangsbeglückt werden

Die aktuell rechtlich möglichen nationalen Opt-outs, also nationale Entscheidungen zur Gentechnikfreiheit, will die Berichterstatterin komplett verbieten. Seit 2015 haben bereits 17 Regierungen den Anbau von GVO verboten. Das wäre dann rechtlich nicht mehr möglich. Sollte diese Position sich durchsetzen, so wären in Folge EU-Mitgliedsländer oder auch regionale Verwaltungen nicht mehr in der Lage, selbst einfache Maßnahmen zur Gentechnikfreiheit wie Abstandsregelungen zwischen Anbauflächen mit NGT-Pflanzen und Anbauflächen ohne Gentechnik zu ergreifen.

• Patente und Patentierung – eine klare EP-Position, aber trotzdem ein zahnloser Tiger?

Eine Mehrheit im EP will nicht, dass NGT-Pflanzen patentiert werden können und spricht sich für eine entsprechende Änderung der Biotech-Richtlinie aus. So weit so gut, aber: um die Patentierbarkeit von NGTs zu verbieten, müsste das Übereinkommen für europäische Patente geändert werden. Dies ist außerhalb des Einflussbereiches der EU-Institutionen, da es eine Vereinbarung von in Europa liegenden Ländern, aber kein EU-Recht ist und es gibt keinerlei Garantie dafür, dass das Europäische Patentamt – welches keine EU-Institution ist – die Biotechrichtlinie entsprechend ändern würde.

Gemäß des Patentübereinkommens sind NGTs patentierbare Prozesse und Patente können auf die Prozesse sowie alle Erzeugnisse dieser Prozesse erteilt werden. Da die EU-Kommission in ihrem Gesetzesvorschlag die Patentfrage völlig ignoriert hat und sich auf Nachfrage lediglich dazu bereit erklärt hat, die Patentfrage in einem Bericht im Jahr 2026 nochmal unter die Lupe zu nehmen, ist es ein guter erster Schritt, dass das EP das Thema weitergehend behandelt hat und sich so klar gegen die Erteilung von Patenten auf NGT-Pflanzen ausspricht und die EU-Mitgliedsländer auffordert, keine Patente auf NGT-Pflanzen zu vergeben. Dieser Kompromiss ist ein großer Fortschritt zum Vorschlag der EU-Kommission. Wir Grüne werden ihn aber bei der Abstimmung nicht unterstützen, da der Text leider - auf Grund des oben aufgeführten Sachverhaltes eine bloße Absichtserklärung bleibt, ohne direkte rechtliche Folgen. Auch ist der Kompromiss keinesfalls ein Grund, für den Gesetzesvorschlag als Ganzes zu stimmen.

• Unwissenschaftliche Verharmlosung von NGT 1 auch im Herzstück des Gesetzesvorhabens Der Anhang I des Kommissionsvorschlages, der die Gleichwertigkeit von NGT 1 mit Pflanzen aus konventioneller Züchtung proklamiert, war bereits in der Kommissions-Vorlage wissenschaftlich unhaltbar. Grundannahme des Kommissionsvorschlages war dabei, dass Pflanzen der Kategorie 1 gleichwertig mit konventionell gezüchteten Pflanzen sind, was ihre Risiken anbelangt, wenn sie sich von der Empfänger-/Elternpflanze durch nicht mehr als 20 genetische Veränderungen unterscheidet. Die von der EVP-Berichterstatterin nun propagierte Version dieser Definition beruht nun 1:1 auf einem Lobbydokument der Agrarindustrie und ist völlig unbrauchbar.
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